Nikolai Vogel / nachwort.de

home » was bisher geschah » Oktober 2004 » München - Frankfurt (Oder) - München
Mittwoch, 13. Oktober 2004

München - Frankfurt (Oder) - München

(nach und nach von den letzten Tagen...)

München - Frankfurt (Oder)
3.10.4. Morgens im Zug nach Frankfurt/Oder. Mit der dringendst empfohlenen Platzreservierung wegen des letzten Oktoberfestwochenendes, aber die Waggons sind nur spärlich belegt, ich setze mich an einen Platz mit Tisch. Die Landschaft bis an den Horizont gestochen scharf, am Himmel seidige Schleier und hineingehängt wenige Wolken. Das Guten-Morgen-Crescendo des gutgelaunten Schaffners. In München aus der U-Bahn statt Zeitung "Der dritte Mann" gekauft und im Zug gleich aus dem Cellophan gerissen. Die Landschaft vor dem Zug, scharf, wie im Flatscreen. In Plastik eingepackte Heurollen liegen da, wie eine Ansammlung Riesenboviste. Den Thinkpad aufgeklappt, Wetterroman umarbeiten? Nochmals alles überdenken. Maisfelder, wie verdorrt, trotz der vielen letzten Regentage. Je später der Tag, desto marmorierter der Himmel. Gestern nacht weiter in der Autobiographie meines Urgroßvaters "München leuchtete", bis ins Kapitel Schwabing. Wieder, wie oft im Zug, Autechre im Minidisc, eine Musik, die wie eine Landschaft ist. Nach Norden bezieht sich der Himmel. Tieffliegende Wolken. Hie und da noch ein vereinzeltes gelb strahlendes Rapsfeld. In den schattigen Waldstrecken spiegelt sich das Wagoninnere in den Scheiben, wird als ein durchsichtiges Bild auf die grünen Böschungen geworfen, an denen es flimmernd im Tempo des Zuges vorbeieilt. In Thüringen ist der dritte Mann zu Ende gelesen. Ein hoher Schornstein am Bahnhof Saalfeld. Reisende essen Brote. Reisende essen Süßigkeiten. Gebürstete Äcker und Dörfer dahinter. Baumsetzlinge an den kreuzenden Straßen. Die Welt ist ein Wunder aus Ordnung und Unordnung.

Frankfurt (Oder) - München
6.10.4. Zwischen Berlin und der Lutherstadt drehen sich Windräder. Der Zug ist voll, zurück wurde mir die Reservierung nicht nahegelegt, Staus in den Gängen lösen sich nur langsam, ich finde einen Sitz, später verteilt die Schaffnerin die wenigen Freiplätze, die sie erspäht, an letzte Suchende. Drei Tage Frankfurt Oder und nicht im Kleist-Museum. Über den Tag in Konfrenzräumen sitzen, in der Viadrina, im Collegium Polonicum, kurz begrüßt von Frau Schwan, auch der Bürgermeister erscheint, die Stadt gibt sich Mühe, abends wirkt sie schnell ausgestorben, die Oder dümpelt tief in ihrem Bett, zu wenig Wasser für größere Schiffe. Aber die Kirchenfenster kommen zurück, die wenigen alten Häuser, die die Kriege überstanden haben, sind renoviert, lumpig wirkt nur das Neuere, die Plattenbauten der letzten Jahrzehnte, oft schon fensterlos, an denen die Zeit viel mehr frisst, ein Zwischenstand, der das erst kurz zurückliegende viel überholter erscheinen lässt als das Übrige früherer Jahrhunderte. Der schnellere Wandel, der auch das schnellere Vergessen miteinzuschließen scheint und damit ein Weniger an Geschichte.

(das Nächste folgt...)

NV am 13.10.2004 um 20:10


« weiter zurück | Seitenanfang | weiter vor »

home
was bisher geschah