Nikolai Vogel / nachwort.de

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Montag, 28. Juni 2004

Neigungsgruppe Kultur

Die 28. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt /
Ingeborg-Bachmann-Preis


Klagenfurt ist kein Text. Klagenfurt ist eine Lesart. Eine Lesart, die es nicht gibt, die sich erfindet. Ein Textsortenkarussell, eine Spieluhr, die mit Noten versorgt sein will, von der man aber nicht weiß, wie sie sich dreht, ein Recyclinghof der Interpretation, eine Nebenrechtsverwertung, ein Bild.

Ein Foto gemacht im Zug nach Klagenfurt, ein paar am See zwischen Strandhütten über das Wasser zu den Bergen. Kein Foto gemacht vom Bachmann-Wettbewerb.

Kein Foto gemacht, aber Bilder behalten. Empfang im Stadthaus und dort nach den Kärntner Sängerknaben und dem Essen ein in die Bachmann-Ausstellung "Schreiben gegen den Krieg" gestellter Fernseher mit ein paar Stuhlreihen davor. Hinter dem Bildschirm rechts ein metergroßes Foto, Menschen wie von der Zeit überfallen über ein Feld gehend, im Hintergrund zerstörte Häuser, schwarzweiß. Davor im Fernsehbild der grüne Rasen, die laufenden Spieler, bewegte Farben. Und davor das gebannte Publikum aus der Berufswelt der Literatur. Wie inszeniert, ein schöner Clash.

Fußball in den Tagen der Lesungen allgegenwärtig. Ein Juror - welcher wird hier nicht verraten - in der Pause auf der Herrentoilette: "Stimmt das? Rudi Völler ist zurückgetreten?" Backstage zog die Europameisterschaft die Fäden, spielte an den Abenden jeden Text mühelos aus, schuf Begeisterung in vielen Kulturarbeiterherzen, Begeisterung, mit der höchstens die Reaktion der Jury nach Uwe Tellkamps Lesung konkurrieren konnte.

Die Elfmeter der portugiesischen Mannschaft gegen die englische filigran. Wie auf der Suche nach einem anderen Diskurs. Ijoma Mangold schreibt in der SZ "Alles anders". Nachts erzählt mir ein Radiojournalist, der Radiosender habe die Kulturredaktion aufgelöst, um deren bleibende Mitarbeiter fortan als Neigungsgruppe Kultur zu führen. Marius Meller schreibt im Tagesspiegel "Kritik ist die schönste Drecksarbeit der Welt".

Bei der Ziehung der Startreihenfolge ging beinahe ein Raunen durchs Publikum, als Juli Zeh zum Lostopf schritt, sie schien vorab als die haushohe Favoritin. Ihr Text wirkte klischiert, als geile er sich auf an der Szenerie, die er schuf, an einem vergewaltigenden Übergriff von Jungs auf ein heldisches Mädchen, am Thema der Machtausübung. Ihr Beitrag in der eben bei edition selene erschienenen Anthologie Zeitzonen ist weit besser, aber bei all den Texten, die ich bisher von ihr las - und es sind nur ein paar und nur kürzere -, spielt Macht eine große Rolle, das Ausüben und Entfalten von Macht über Personen, und ich habe dabei immer das Gefühl, dass es eine große Affinität, eine Anziehung gibt, die Erzählerin scheint fasziniert und gefesselt von ihr, und ich bin nicht sicher, ob und wie sie dies reflektiert? Blättern in Theweleits Buch der Könige.

Klagenfurt. Anleitung für Klagenfurt. Die Mieträder, die Ausflüge zum See. Das Essen im Maria Loretto, wo mancher Kellner die Entscheidung, wie viel ein Gast trinken soll, an sich zu ziehen versucht, für mehr plädiert als man bestellen will und sich damit als penetranter Account Manager in der Sales-Abteilung eines sich aggressiv ausbreitenden Wirtschaftskonzerns empfehlen könnte. Die Seelage als Entschuldigung. Das Tanzen im Scotch-Club, das Ausschwitzen der gehörten Texte in Mainstream-Hits, auch der Körper will enthusiasiert werden, nüchtern wird man früh genug.

Klaus Nüchtern arbeitete mit Witz als "Hobbypsychiater" und alle neun Diskutanten choreographierten ein Wechselspiel aus der Formulierung verblüffender Erkenntnis und solipsistischer Eigenart, vor der die Kameras auf ihren geräuschlosen Rädern ihre Bahnen zogen, wie ein in Zeitlupe beobachtetes Ballett. Die Lust am Text im Spiegelstadium. Die eingespielte Zusammenfassung des vorigen Tages klang immer ein wenig nach Herzblatt.

Eine Dynamik der Übertragung. Die Jury verlängerte zumeist die Stillage des Textes, bei Uwe Tellkamp ist sie enthusiasiert, bei Guy Helminger witzig wie selten, bei Arne Ross bedächtig und vorsichtig, bei Andreas Münzer weiß sie nicht so recht und bei Simona Sabato schien sie zum Teil mehr dem Wahn verfallen als die Hauptperson in ihrem Text, überdachte die Diskussion aber offenbar rechtzeitig vor der Preisverleihung.

Das Programm war dicht, zu sich kam man kaum. Schlaf nachholen. Gerrit Bartels schreibt in der taz "merkwürdige Gegenwartslosigkeit". Mein Word-Programm schlägt vor Gegenwartslosigkeit zu ersetzen durch Gegenwartsrosigkeit. Von da ist es wohl nicht mehr weit zu Pelargonien.

NV am 28.06.2004 um 21:41


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