Nikolai Vogel / nachwort.de

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Samstag, 26. Januar 2008

Gehen wir arbeiten

Der Bus fährt den Giesinger Berg hinab. Über den ganzen Fußboden verteilt sich Flüssigkeit, durchsichtig, farblos. In der letzten Reihe, vor dem Fenster, schläft ein Mann. Die Tetrapackflasche Weißwein vor ihm ist umgekippt. Der Wein erobert sich den Bus, bis ganz nach vorne, tastende Rinnsaale. Draußen ist es kalt. In die Wohnung, Kaffee. In der gleichen Buslinie, etwas später, jemand, der erzählt, er fahre schon drei Runden, was solle er denn draußen in der Kälte stehen. Betrunken. Und fasziniert davon, dass eine junge Frau immer wieder mit ihrem Krapfen tropft, macht Witze, setzt sich zu ihr, redet auf sie ein. Sie, souverän, erklärt ihm ausführlich, wie es kommt, dass sie um zwei schon heimfährt und dennoch arbeitet. Er glaubt ihr nicht, will sie überführen. "Du studierst doch", sagt er immer wieder. "Nein, ich arbeite." "Aber dann wärst Du doch schon um drei, vier in der Früh in der Arbeit gewesen, bei so einem acht Stunden Tag. Du bist Student!" "Nein, ich arbeite." - "Ich glaube Dir", sage ich, als ich aussteige. Sie bedankt sich und er sagt, er glaube es auch schon fast. Das Geheimnis heißt halbtags. Hinter der Paul-Heise-Unterführung sind die Ampeln ausgefallen. Zwei Polizisten regeln den Verkehr, Stress mit der großen Kreuzung. Warum denke ich mich immer in die Grundschule zurück, wenn ich Schutzmänner sehe? Die Autos fahren, die Passanten passieren, alle verhalten sich brav, jeder gibt sich Mühe, achtet auf die Schutzmann-Arme. Es ist kalt aber der Himmel ist offen. Die Zeit passiert, der Tag wird Abend, der Abend wird Nacht. Räume, die neu sind, ohne Rauch. Andere Gerüche. Nach Menschen und Deos. In manchen Kneipen riecht es nach Sportheim. Der Verkehr wird am frühen Morgen weniger. Immer noch kalt, aber nicht kälter als tags. Der Bürgersteig dicht besiedelt. Die Clubs wollen alle noch Eintritt. Eine Bude macht Umsatz. Putendöner, Pizza. Vor uns in der Schlange ein euphorischer Junge. "Döner ist Sex", sagt er und tanzt davon. Die Clubs wollen alle noch Eintritt, auch auf dieser Seite der Straße. Ein Stück Pizza. Dann noch eines. Stehen, kauen, schauen, verdauen. Fahren wir heim und sind da in der Früh. Und am nächsten Tag in den Zimmern der Wohnung. Tee kochen, Bücher aufschlagen, den Radio abstellen, den Computer nicht anmachen. Draußen Wetter. Der Fluss ist da und man könnte spazieren gehen. Die Hände in den Taschen, den Hals im Schal. Einen in Italien am Strand gekauften Drachen das erste Mal fliegen lassen. Der böige Wind lässt ihn immer wieder hängen. Wie Löcher in der Luft, in die er dann stürzt. Die Erwachsenen schauen hoch, die Kinder sind meist zu vertieft in ihre Schrittfolgen, Hunde tollen herum und schnüffeln sich in den Arsch. Isarstrand. Überall Pfützen. Schneeschmelze. Morgens zwischen den Autos über die Straße. Morgens ein Bus. Gesichter, die man schon gesehen hat, Gesichter, die man noch nicht gesehen hat, und Gesichter, bei denen man nicht weiß, hat man sie schon gesehen? Der Blick aus dem Fenster, als könnte er draußen die Häuserwände streichen. Neueröffnete Läden. Stundenlang am Computer sitzen, Seiten aktualisieren, Zeit messen, Systeme testen, alles Mechanik. Tiere sehen dich an. Schweine, die in der Mast nie zu trinken bekommen - haben sie Durst, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als noch mehr Brei zu fressen. Abends die Tram, die U-Bahn. Die Stille im dunklen Hofgarten. Thanks for nothing im Kunstverein, dann Disco. Beim linken Plattenspieler geht nur der linke Kanal. Balance zu halten ist immer wieder schwer. Seiltänzerleben. Die Räume nie mehr zu voll, weil ein gutes Drittel der Gäste meist vor der Tür steht. Rauch in den Winter. Diesen Text auch heute nicht fertig schreiben. Zu müde fürs Überlesen. Gerade noch gegessen. Und ins Bett mit einem Buch, für wenige Seiten, bevor der Arm zum Licht der Lampe langt und die Nacht sich auch über die Decke senkt und den Traum, der darunter geträumt werden wird. Der frühe Bus überfüllt, wahrscheinlich ist der davor ausgefallen. Die Geschichte der Sitze. Wer schon alles darauf gesessen hat. Die gleichen Wege, wohin.

NV am 26.01.2008 um 00:09


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