Nikolai Vogel / nachwort.de

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Montag, 7. Februar 2005

Entdeckungen

Samstag. Den Zug um 6:35 nach Berlin. Auf der Straße jemand, der im Zick Zack ruft Mama, ich liebe dich, von seiner Begleitung weitergezogen wird. Der Weg zum Bahnhof. Gerade erst ein paar mehr unterwegs aus den Betten als unterwegs in die Betten. Obwohl fast alle müde wirken, lassen sich die Gruppen gut unterscheiden, die Bewegungen der zweiten sind phantasievoller.

Der Tag wird klar, die Sonne schiebt ein aus der Nacht steigendes, tief blaues Lila vor sich her, bevor sie selbst erscheint.



Stichpunkte
Strecke München, Leipzig, Berlin

Die Birken (die Birken bei Tarkowski erinnern).
Raureif. Bodennebel.
Jägerstände am Waldrand.
Im Plastik verpacktes Stroh.
Von Jets angeritzter Himmel, blassblau.
Kfz Reparaturen.
Das Auf und Ab der Leitplanken.
Feldwege und Bachläufe.
Im Winter die spröden Hände, im Sommer die Schnaken.
Bremsen.

Forellenteiche, zugefroren.
Brachland.
Gebäude, zum Abriss freigegeben.
Baumstämme mit roten Nummern versehen (sehe ich nicht, aber denke daran).
Das Zimmer aufräumen. Die Gegend aufräumen.
Die Landschaft neu sortieren.
Leere Felder, die daliegen wie gekämmt.

Ein Kind schmeißt im Zug das ausliegende Werbemagazin auf den Boden. Die Vorbeigehenden stoppen jeweils davor, schauen darauf, steigen darüber. Niemand hebt es auf. Lange Schritte, bis die Schaffnerin kommt. Ihr Parfüm schwappt ins Abteil. Morgensüße.

Müdigkeit. Die ganze Welt muss schlafen, damit das Böse nicht hineinkommt - bei John Difool.

Windräderriesen wie die Herausforderung zur Rückrunde an Quichotte.

Überlandleitungen als die Frage nach dem Wohin und Woher. Eine Sehnsucht nach Vogelschwärmen. Weiße Rauchformationen aus den Fabrikschlöten, die in der Luft stehen wie Skulpturen. Davor feinsinniges, tintiges Geäst blattloser Alleen. Tiefenschärfe, flimmerfrei.

Das fünfte - manche sagen sechste - Jahr im neuen Jahrtausend.
Februartag unter hohem Himmel.

Minidisk. Plaid.
Mittags Grüner Tee Morgentau.

Ich fahre von München nach Berlin und les' ein Buch, das spielt in Wien...
(Lese es dann gar nicht, habs nur dabei.)

Überall Blitzableiter.



Im LCB treffe ich Inga Niemann und Till Janetzki. Etwas essen, ein, zwei Tassen Kaffee. Ein paar Schritte die steil abfallende Wiese zum See hinunter. Blenden der Sonne. Guter Laune ins Studio. Der kurze Film, die halbstündige Lesung. Die Aufnahmen sind schnell gemacht. Dann schauen wir die Bilder an den Wänden an, unterhalten uns über den Tag & den Abend. Ein Bier mit Till. Und noch eines.

Das Haus ist leer. Still.

Ich bleibe die Nacht. Leere Regalfächer in meinem Zimmer. Viel Platz für Bücher. In einem stehen ein paar:

Dumont Literatur: Die Autoren Herbst 1998.
Niedersachsen literarisch, 65 Autorenporträts.
Das Gedächtnis der Wörter. Berliner Anthologie.
Palette 5. Zeitschrift für neueste Literatur: Knast Literatur.
Probleme der internationalen Beziehungen. Herausgegeben von Ekkehart Krippendorff.
Paul M. Sweezy: Die Zukunft des Kapitalismus und andere Aufsätze zur politischen Ökonomie.
scritture giovani 2003: borders.
Marian Pankowski: Matuga kommt.
New Writing 7. An Anthology edited by Carmen Callil & Craig Raine.
Magarethe Sedranitz: unterwegs.
Svetozar Stojanovic: Kritik und Zukunft des Sozialismus.

Vom "New Writing 7" sogar vier Exemplare. Im Pankowski eine Signatur von Walter Höllerer. Und die Gelben Seiten und das Telefonbuch für Berlin. A-K und L-Z. Im Gedächtnis der Wörter finde ich folgendes Gedicht von Sumitaku Kenshin:

Nichts in den Taschen
einzig die Hände


Ich gehe in ein nahes Lokal zum Abendessen. An den Wänden hängen Ansichtkarten mit Sprüchen wie "Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot", Blumenmotiv, sechs weiße Blütenblätter, gelb-orangener Stempel. Lilie. Und ein ganzes Sortiment Einstein-Postkarten. Zweifellos wird dieses Jahr unweigerlich zum Einstein-Überdruss führen. Einstein auch heute im Zug, auf dem Cover des Bahnmagazins "mobil". Einstein als die neue Schiffer. Einstein-Überdruss. Schiller-Überdruss. Jubiläen verbrennen Stars wie Hits im Radio. Die Einstein-Sondermünze im Herbst, Einstein bekommt einen deutschen Adler.

Die abgelegten Moden. Mir gegenüber an der Wand kleine schwarzgerahmte Keith Haring-Poster. Wird alles kitschig? Kitsch als Überdruss-Erscheinung?

Um zehn schon tiefste Nacht. Eisiger Wind. Kein Wunder, dass es früher - zumindest im Winter - schon außergewöhnlich spät war um 0 Uhr, dass die Leute fast immer vorher in die Horizontale wechselten, dunkel in ihren Träumen. Man lebte im Licht. Früh auf. Wann gab es die ersten, die länger schliefen, die morgens nicht von der steigenden Sonne aufgerichtet wurden? Gab es unter den Neandertalern schon Langschläfer?

Ich sitze am Rande Berlins. Fahre ich noch rein oder nicht? - Ich fahre nicht. Wer will das hören? Wir wollen Geschichten aus den Szenen Berlins, nächtlichen Bürgersteigbegegnungen, dem kehlennassen Leben. Nicht hören vom Zimmer, dem Buch, dem Notizheft, der halben Flasche Penedès Crianza. Erzähle ich das Gesicht der Nacht, die Nebel der Clubs, die schwankenden Begegnungen in nachtoffenen Bäckereien.

Die klare Nacht. Der Orion. Die Plejaden.

Am Vormittag Frühstück. Blick auf den See. Kurzer Austausch der Tagesplanungen unter den Stipendiaten, dann unterhalte ich mich mit Dmitrij Golynko, der den Februar über im LCB ist, ein wenig über Medienkunst - die Transmediale läuft gerade. Inga und Till kommen wieder, für sie geht es weiter mit den Aufnahmen. Tobias Rohe sitzt schon bei ihnen, erzählt Ideen für seinen Kurzfilm. Noch mal Kaffee. Sie machen sich an die Arbeit, ich auf den Weg.

Platten vom Flohmarkt am Berliner Ostbahnhof.
Der Zug fährt.

NV am 07.02.2005 um 21:06


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