Nikolai Vogel / nachwort.de

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Dienstag, 10. August 2004

Ein biss(-vs.-)ßchen Sprachbürgerkrieg im Zeitungssatz

Springer, Der Spiegel, die SZ kündigen an die Rechtschreibreform zurückzunehmen. Ein schönes Sommerlochthema haben sie sich da ausgesucht. Es erreicht mich Samstag früh im Zug nach Verona, in dem ich diesen Eintrag skizziere.

Nachwort.de wird die Rechtschreibung zunächst nicht zurückstellen, aber ich bin da ziemlich emotionslos; nachdem ich das dass ohne ß verdaut hatte - die neue ss/ß-Regel ist ja wirklich nicht unsinnig - gewöhnte ich mir die neue Rechtschreibung irgendwann an, undogmatisch und ohne zu behaupten sie bis ins letzte Detail zu befolgen, das war's.

Ich bin der Überzeugung, dass jeder halbwegs vernünftige Leser sowohl die neue als auch die alte Schreibung versteht und dass nicht die geringsten Verständnisschwierigkeiten aufkommen, es sei denn, man verspricht sich etwas davon. Das, was sich sträubt, sind nur die Beharrlichkeiten der Gewöhnung. Unlogisches gibt es in beiden Regelwerken und fast möchte man sagen, Gott sei Dank, so leicht ist die Sprache eben nicht in sie sicher bewahrenden Betonufern zu führen, sie lächelt über die Rechtschreibdämme, in denen sie fließen soll, und tut doch was sie will, spült die Befestigungen langsam aber sicher aus, sucht sich neue Wege in denen, die sie sprechen, schreiben, lesen, verstehen, missverstehen.

Ich habe kein Problem mit Büchern in neuer Rechtschreibung, keines mit Büchern in alter, keines mit Büchern in noch älterer, als das th noch mächtig war. Am liebsten lese ich Texte allerdings in der Schreibung, in der sie verfasst wurden, oder in der sie ihre Autoren sehen möchten. Nach diesem Grundsatz publiziert Black Ink seine Editionen, z.B. die Traumnovelle nach der Fassung des Erstdrucks oder die Online-Ausgabe der Duineser Elegien. In WeltII, zur Jahrtausendwende erschienen, gibt es einen Erzählstrang in neuer Schreibweise neben einem in alter, und es ist bisher noch kaum jemandem aufgefallen - soviel zur angeblichen Brisanz des Themas.

Die Leidtragenden dieser aufgeblähten Debatte aus Wichtigkeitsträgern sind allerdings (neben denen, die Deutsch als Fremdsprache lernen) die Schulkinder; vielleicht, mal optimistisch gedacht, lernen sie dabei aber sogar einen kritischeren Umgang mit Regeln, werden freier im Denken, können sich über die sture, festhaltende Witzlosigkeit der Alten amüsieren. Womöglich werden einige später dann Rechtschreibanarchisten oder befragen bei Unsicherheiten höchstens Google, nicht den Duden. Neue Alternativen. Neue Spielwiesen.

NV am 10.08.2004 um 22:16


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